Interview

Experte: Bremerhaven kann Hochqualifizierte nicht in der Stadt halten

Möwen fliegen bei trübem Wetter über dem Zoo am Meer und der Strandhalle. Im Hintergrund ist das Columbus Center zu erkennen.
19 Prozent der Menschen in Bremerhaven können ihre Rechnungen nicht bezahlen. Bild: dpa | Hauke-Christian Dittrich

Wirklich überraschend kam die Meldung, dass Bremen das Bundesland mit der höchsten Überschuldungsquote ist, nicht. Gerade Bremerhaven steht seit Jahren schlecht da. Aber warum eigentlich?

Jeder achte Mensch im Bundesland Bremen ist überschuldet – das geht aus dem jetzt erschienenen sogenannten Schuldner-Atlas der Rating-Agentur Creditreform hervor. Während in der Stadt Bremen etwas mehr als zehn Prozent der Menschen ihre Rechnungen nicht bezahlen können, sind es in Bremerhaven sogar satte 19 Prozent – in keiner anderen deutschen Stadt liegt die Quote höher.  

Neu ist der Befund, dass in Bremen und gerade in Bremerhaven viele Menschen überschuldet sind, wahrlich nicht: Die Quote liegt im Bundesland Bremen fast schon traditionell hoch. Warum das so ist, weiß René Böhme vom Institut Arbeit und Wirtschaft der Uni Bremen – er ist Experte für Regionalentwicklung und Finanzpolitik und erklärt, warum ihn Bremerhavens Spitzenplatz nicht wirklich überrascht hat.

Herr Böhme, im aktuellen Schuldneratlas fällt aus Bremer Sicht besonders auf, dass Bremerhaven deutschlandweit die höchste Schuldnerquote in Deutschland hat. Warum ist das so?

Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Aber es hilft, sich erst einmal anzuschauen, was die Hauptauslöser für Überschuldungsprozesse sind – das sind laut Forschung Dinge wie Arbeitslosigkeit, gesundheitliche Einschränkungen wie Erkrankungen, daneben unwirtschaftliche Haushaltsführung, auch längerfristiges Niedrigeinkommen und Trennungen, eine Scheidung und Tod. Wenn wir mal Arbeitslosigkeit, Gesundheit und längerfristiges Niedrigeinkommen betrachten, dann sehen wir, dass das Aspekte sind, die in Bremerhaven sehr stark ausgeprägt sind.

Bremerhaven hat bundesweit die zweithöchste Arbeitslosenquote nach Gelsenkirchen. Daneben gibt es einen ganz deutlichen Zusammenhang in Deutschland zwischen Arbeitslosigkeit, Armut und Gesundheit – von daher müssen wir davon ausgehen, dass in Bremerhaven auch viele Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen leben. Das längerfristige Niedrigeinkommen kann man letztendlich übersetzen mit Armut – und Bremerhaven hat die mit Abstand höchste Armutsgefährdungsquote in Deutschland. Und diese drei Dinge zusammengenommen machen es für mich wenig überraschend, dass Bremerhaven dann auch in Sachen Überschuldung dann ganz vorn liegt.

René Böhme
René Böhme arbeitet am Institut Arbeit und Wirtschaft der Uni Bremen. Bild: privat

Picken wir uns von den drei Aspekten, die Sie genannt haben, erstmal Arbeitslosigkeit und Armut raus – die Dinge, die erst einmal einen offensichtlichen wirtschaftlichen Bezug haben. Wo liegt der Ursprung darin, dass diese Faktoren in Bremerhaven besonders ausgeprägt sind?

Das hat wirtschaftsstrukturelle Gründe. Es hat in Bremerhaven mit dem Weggang und Niedergang des Werften- und Fischerei-Gewerbes sowie mit dem Abzug der Amerikaner in den 90er-Jahren einen sehr starken wirtschaftsstrukturellen Wandel gegeben – beziehungsweise einen wirtschaftsstrukturellen Schrumpfungsprozess.

Es ist aber ja nicht so, dass Bremerhaven die einzige Stadt in Deutschland ist, die vor solchen Herausforderungen stand: Mit solchen Problemlagen hatten ungefähr 50 Städte in Deutschland zu kämpfen. Und im Vergleich mit diesen Städten hat Bremerhaven sogar richtig gut abgeschnitten, was die Schaffung von neuen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen in den letzten 20 Jahren angeht. Das lag teilweise über dem Bundesdurchschnitt. Aber: Die schlagen sich eben nicht so in den Kennziffern Bremerhavens nieder. Daraus schlussfolgere ich, dass zwar viele auf Hochqualifizierte ausgerichtete neue Jobs in Bremerhaven entstanden sind – die Menschen, die in diesen Jobs arbeiten, aber nicht in Bremerhaven leben, sondern aus dem Umland einpendeln.

Und da sind wir dann bei dem Grund-Problem von Bremerhaven und vielen dieser strukturschwachen Großstädte: Es gelingt nicht, diese neuen Hochqualifizierten bei ihnen vor Ort in der Kommune zu halten, auch wegen Image-Problemen.

René Böhme, Institut Arbeit und Wirtschaft

Die pendeln halt in der Regel ein. Deswegen sind die Überschuldungsquoten im Umland von Bremerhaven sehr niedrig und an der Stadtgrenze von Bremerhaven werden sie dann sehr, sehr hoch.

Welche Rolle spielt die Gesundheit der Bremerhavenerinnen und Bremerhavener in Sachen Überschuldung?

Letztendlich kann man den Zusammenhang zwischen Überschuldung und Gesundheit ganz gut mit diesem Slogan "Armut macht krank – Krankheit macht arm" umschreiben. Wenn Sie gesundheitliche Einschränkungen haben, dann können Sie weniger erwerbstätig sein, haben ein entsprechend niedrigeres Einkommen und sind stärker gefährdet, sich zu überschulden und finanzielle Risiken einzugehen. Durch gesundheitliche Problemlagen können Sie diese Risiken zudem dann nicht mehr bedienen und so kommen Sie dann in die Überschuldung hinein.

Aber der Zusammenhang von Armut und Gesundheit ist sehr komplex, da gibt es nicht die eine Variable. Man muss auch betrachten, dass häufig die gesundheitlichen Belastungen für Menschen, die in eher prekären Verhältnissen arbeiten, höher sind: Beispielsweise sind die Belastungen am Wohnort oft größer, weil die Wohnungen eher an großen Straßen liegen, von Grünanlagen entfernt sind, dass die gesundheitliche Versorgung häufig für Menschen in ärmeren Quartieren deutlich schlechter ist, was den Zugang zu Fachärzten betrifft. Das ist so eine ganze Reihe von Aspekten, die da eine Rolle spielen – und am Ende dazu führen, dass aus sozialer Ungleichheit dann auch gesundheitliche Ungleichheit wird.

Wir haben jetzt sehr viel über Bremerhaven gesprochen. Lassen Sie uns auch noch einmal über die Stadt Bremen sprechen, wo die Überschuldungsquote bei etwa zehn Prozent liegt, auch schon seit längerer Zeit. Warum ist es so schwer, die Quote dort zu reduzieren?

Bremen hat im Unterschied zu Bremerhaven eine größere Polarisierung in Sachen Verschuldung: In Bremerhaven ist das gesamte Stadtgebiet mit einer überdurchschnittlichen Überschuldungsquote versehen, in Bremen ist das anders. Da haben wir eine sehr starke Differenzierung zwischen dem Nordosten der Stadt – klassischerweise die Gebiete, in denen eine geringere Arbeitslosigkeit herrscht und die Menschen höhere Qualifikationen und höheren Einkommen haben – wo dann auch die Verschuldungszahlen sehr niedrig sind. Und dann haben wir eben auch die anderen Stadtteile, vor allem im Bremer Westen und im Bremer Norden, wo es die größten Quoten von Sozialleistungsbezug gibt, wo die höchsten Arbeitslosenzahlen herrschen und sich die sozialstrukturelle Zusammensetzung vor Ort in den vergangenen Jahren nicht in eine positive Richtung entwickelt hat. Das sind die Gebiete, wo sich vor dem Hintergrund der Zwänge am Wohnungsmarkt viele Menschen erstmal niederlassen müssen, die über weniger Einkommen verfügen. Im Hinblick auf hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Einkommen ist es nicht überraschend, dass da dann eben auch die höchsten Überschuldungsquoten sind.

Was sind denn die Stellschrauben, an denen die Politik, die Gesellschaft und die Wirtschaft grundsätzlich drehen müssen, um die Bürger in Bremen und Bremerhaven besser dastehen zu lassen? Welche Ansatzpunkte gibt es?

Wenn wir eben davon ausgehen, dass die Einkommenssituation beziehungsweise das Thema Arbeitslosigkeit der zentrale Punkt ist, dann geht es eben natürlich erstmal darum, die Einkommenssituation der Menschen zu verbessern. In den letzten Jahren ist aber eher das Gegenteil passiert: Die hohe Inflation hat die Situation vieler Menschen eher verschlechtert. Deswegen wird das Thema Verschuldung möglicherweise perspektivisch in Richtung der nächsten Jahre weiter an Brisanz gewinnen. Es sind jetzt in den letzten Jahren ein paar Schritte vereinbart worden. Die deutliche Mindestlohnerhöhung und die Bürgergelderhöhung waren wichtige Schritte, die durch die Inflation aber wieder aufgefressen worden sind. Wenn die Kindergrundsicherung auf Bundesebene kommt, dann wird das ein wichtiger Schritt sein, um die finanzielle Situation von Familien zu verbessern – die dann möglicherweise auch ein geringeres Risiko haben, sich zu verschulden.

Ansonsten haben wir in den vergangenen Monaten in den Medien mehrfach über Lohnabstandsgebot diskutiert. Das zeigt ja, dass das ein brisantes Thema ist. Dabei müssen wir bedenken, wenn wir über Lohnuntergrenzen nachdenken und darüber diskutieren, wo man verschiedene Leistungen nochmal weiter absenken sollte, um eben keine Fehlanreize zu setzen: Leistungsabsenkungen oder eine Lohnzurückhaltung heißen letztendlich für viele Haushalte am Ende eben auch ein höheres Überschuldungsrisiko.

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Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Nachrichten, 15. November 2023, 11 Uhr