Ist unser Pflegesystem am Ende, Herr Rothgang?
Kaum Personal, Pleiten und Pandemie: Das Pflegesystem musste bisher einiges aushalten. Was sich ändern muss, schildert der Pflegeforscher Heinz Rothgang im Interview mit Felix Krömer.
Der Pflegeheimbetreiber-Convivo hat Insolvenz angemeldet. Es ist nicht der einzige Betreiber, der Probleme hat. Denn nicht nur die Finanzierung ist ein Problem, auch der Personalmangel legt der Altenpflege und der Krankenpflege Steine in den Weg.
Dass diese Probleme nicht neu sind, weiß auch Heinz Rothgang. Er ist Gesundheitsökonom und Pflegeforscher an der Universität Bremen. Im Interview mit Felix Krömer redet er über die zukünftige Finanzierung der Pflege, über den Umgang der Gesellschaft mit den Problemen in der Pflege und darüber, wie ausländische Fachkräfte beim Personalmangel kurzfristig helfen können.
1 Die ersten Pflegeheim-Pleiten wie Convivo in Bremen: Sind sie erst der Anfang?
"Das ist sicherlich nicht der letzte Fall. Wir sind definitiv in einer krisenhaften Situation", sagt Rothgang. Zwar habe es schon in den 90ern Bücher zum Pflegenotstand gegeben, aktuell sei die Lage aber so schlimm wie schon 20 Jahre nicht mehr. Das sehe man laut Rothgang vor allem daran, dass neben großen Ketten wie Convivo auch Einrichtungen pleite gingen, die zu den besten gehörten. Als Schlüssel zum Erfolg sieht Rothgang mehr Personal.
Ab Minute 2:25 geht Heinz Rothgang auf die Finanzierung und die Kosten der Pflegeheime ein und wie sich diese aufteilen.
2 Wer kann sich den Eigenanteil noch leisten?
Im Schnitt müssen Angehörige oder die zu Pflegenden einen Eigenanteil von rund 2.500 Euro im Monat tragen. Rothgang schätzt den Eigenanteil als sehr hoch ein und findet, dass dieser nicht erhöht und zumindest begrenzt werden solle. Auch in Hinblick auf niedrige Renten sei der Eigenanteil zu hoch. Dafür gibt es seit Sommer 2021 Zuschüsse, abhängig vom Zeitraum, der im Heim verbracht wird. Rothgang sieht einen Effekt durch den Zuschuss zum Eigenanteil, der reiche aber vorne und hinten nicht. "Der Zuschuss zum Eigenanteil ist eine Ungleichverteilung. Wirklich profitieren tun nur die, die drei oder vier Jahre im Heim bleiben." In der Realität seien das aber die Wenigsten, denn viele stürben früher.
Der Zuschuss zum Eigenanteil ist eine Ungleichverteilung. Wirklich profitieren tun nur die, die drei oder vier Jahre im Heim bleiben.
Heinz Rothgang, Gesundheitsökonom und Pflegeforscher an der Uni Bremen
Ab Minute 10:29 erzählt der Pflegeforscher, dass er das Potenzial von Angehörigen, die zuhause pflegen, nicht für ausbaufähig halte und Pflege auch deshalb teurer werde. Er spricht auch über die Frage der Verteilung der Kosten, wenn in Zukunft mehr Menschen pflegebdürftig werden.
3 Ist es okay, mit der Pflege von Alten und Kranken Profit zu machen?
Eine schwierige Frage, findet Rothgang. "Mehr als die Hälfte der Anbieter im ambulanten Bereich sind private Träger. Im stationären Bereich sind es knapp unter der Hälfte." Die Pflege könne auf die privaten Träger nicht verzichten. "Es ist nicht möglich, dass diese Infrastruktur kommunal aufrecht erhalten wird."
Das Problem der Gewinnorientierung sieht Rothgang aber nicht bei privaten Trägern mit ein oder zwei Heimen. Schwieriger findet er die Gewinnorientierung großer Ketten. Dort könne man zwar häufig Sachgüter günstiger einkaufen, um trotzdem eine hohe Rendite einzufahren, müsse man das Personal aber schlechter bezahlen.
Ab Minute 19:05 spricht Rothgang über die gestiegenen Pflegekosten für Angehörige durch Tarifverträge, über die Entwicklung der Pflegeinfrastruktur in den vergangenen Jahren bis heute und über begrenzte Renditen zur Reinvestition.
4 Hat die Corona-Pandemie ein anderes Licht auf die Pflege geworfen?
Zwar hat es durchaus zu Beginn Wertschätzung und Dankbarkeit gegeben sowie eine Corona-Prämie, bei der Frage der Finanzierung hat sich diese Wertschätzung aber wieder aufgelöst, erzählt Rothgang. "Aus dem positiven Signal heraus 'Wir sehen, dass Pflegekräfte wichtige Arbeit leisten' ist es nicht gelungen, diese Wertschätzung rüberzubringen", findet der Pflegeforscher. Dabei gehe man auch Risiken ein: Als Pflegekraft habe man in den ersten beiden Wellen eine fünf mal höhere Infektionsgefahr gehabt.
Aus dem positiven Signal heraus 'Wir sehen, dass Pflegekräfte wichtige Arbeit leisten' ist es nicht gelungen diese Wertschätzung rüberzubringen.
Heinz Rothgang, Gesundheitsökonom und Pflegeforscher an der Uni Bremen
Während der Pandemie habe man befürchtet, dass viele Pflegende den Beruf verlassen. Das habe sich nicht bewahrheitet, sagt Rothgang. Viele Menschen verließen vor allem jetzt nach der Pandemie die Pflege. Grund dafür seien die Zustände der Pflege und eine gewisse Erschöpfung. Ob und wie Pflegekräfte, die den Beruf verlassen haben, zurückzugewinnen sind, erklärt Rothgang ab Minute 44:20.
5 Ist es okay, Pflegekräfte aus dem Ausland anzuwerben?
"In der aktuellen Situation ist es sinnvoll und notwendig", findet der Pflegeforscher. Oft suche man sich Pflegekräfte aus dem EU-Ausland, weil die Suche innerhalb der EU nicht möglich wäre, ohne ein anderes Land auszubeuten. Deshalb müsse man in Länder gehen, in denen das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht, wenn man Leute abwirbt. Mexiko und die Philippinen seien deshalb nicht aus Zufall häufig gewählte Länder, um Pflegekräfte zu gewinnen. Rothgang sagt auch, dass man gezielt auch nach Assistenzkräften suchen müsse – und nicht nur nach Fachkräften. "Kurzfristig, mittelfristig kann uns das helfen."
Ab Minute 52:40 erklärt Heinz Rothgang, welche langfristigen Probleme auf die Pflege zukommen werden und welche Rolle China bei der Suche nach Personal spielen wird.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 4. Februar 2023, 19:30 Uhr