Interview
Bremer Psychologe: Tablets für alle Schulkinder sind eine Katastrophe
Tablets in Kinderzimmern seien ein großer Fehler, sagt ein Bremer Psychologe. Er sieht Eltern in der Pflicht, Kinder vor Pornos und Gewalt im Internet zu schützen.
Bremens Schulsystem gilt als vorbildlich in Fragen der Digitalisierung. Auch, weil es alle Schülerinnen und Schüler in der Pandemie mit Tablets ausgestattet hat. Doch es gibt auch kritische Stimmen. Zum heutigen bundesweiten Aktionstag "Safer Internet Day" (Tag für mehr Internetsicherheit) warnen Psychologen vor Gefahren, denen gerade Schulkinder mit mobilen Endgeräten durch das Internet ausgesetzt seien. Besonders kritisch äußert sich der Bremer Psychologe Thorsten Fehr. Er findet es "katastrophal", dass alle Bremer Schulkinder Tablets haben. Er sieht die Eltern in der Pflicht, ihre Kinder vor Pornos und Gewalt im Netz zu schützen.
Herr Fehr, Ihre Kollegin Tabea Freitag sagt, dass mehr als die Hälfte der elf- bis 13-jährigen Kinder bereits Pornos im Internet gesehen habe. Dabei könnten sich drei Viertel aller Eltern so etwas gar nicht von ihren Kindern vorstellen. Was sagt dieser Befund aus Ihrer Sicht über die Kinder aus, was über die Eltern?
Es ist natürlich naiv von Eltern anzunehmen, dass speziell ihre Kinder nichts Verwerfliches im Internet tun würden. In dem Moment, wo Kinder unbemerkt etwas machen können, von dem irgendwelche Freunde oder ältere Geschwister sagen: "Das hat etwas mit dem Erwachsensein zu tun" – dann machen die das auch. Ob sie das dann genießen oder toll finden, ist eine andere Frage. Aber: Sie werden es konsumieren, und das wird sehr schädliche Folgen für sie haben, weil Pornos, insbesondere wenn sie gewaltbezogene und machtmissbrauchende Elemente abbilden, nicht altersgemäß verarbeitet werden können.
Bitte erklären Sie das etwas genauer: Inwiefern schadet es Kindern, wenn sie sich Pornos im Internet ansehen?
Natürlich ist Pornografie nicht gleich Pornografie. Aber der Mainstream ist hochgradig geschlechterstereotyp, man könnte auch sagen frauenfeindlich. Es ist gar nicht so sehr die Erotik, die das Problem darstellt, sondern der Umgang, der dort gezeigt wird, die Leute, die sich da tummeln – und die auch als Vorbilder dienen. Da findet viel offene, aber auch subtile Gewalt in der Interaktion statt. Das führt bei den Kindern zu respektlosem Verhalten zum Beispiel gegenüber Freunden, Erwachsenen oder jüngeren Geschwistern.
Hinzu kommt, gerade bei Kindern, die am Beginn der Pubertät stehen, dass sie sich sehr für sexuelle Inhalte interessieren. Wenn sie nun auch noch über das Internet einen unbeschränkten, unbegleiteten Zugang dazu haben, dann kann das sehr schnell zu Abhängigkeiten führen. Sucht hat negative Konsequenzen, potentiell sogar für den Rest des Lebens.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie als Vater daraus?
Ich postuliere den begleiteten Internetzugang. Man darf die Kommunikation nicht scheuen, darf sie nicht dem Internet überlassen. Das heißt: Man muss mit den Kindern über die Inhalte im Netz sprechen. Außerdem muss man aufpassen, dass die Kinder nicht mit Geräten ausgestattet sind, mit denen sie vollkommen ungefiltert, selbstüberlassen 24 Stunden am Tag ins Internet gehen können. Das heißt auch: keine mobilen Endgeräte, schon gar nicht im Kinderzimmer! Alles andere ist ein unglaublich großer Fehler, spricht gegen alle psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse zu diesem Thema.
Kinder, die in Bremen zur Schule gehen, bekommen mobile Endgeräte sogar von der Schule gestellt. Was halten Sie davon?
Das ist pädagogisch gesehen eine Katastrophe. Es widerspricht allem, was wir über die entsprechenden Effekte wissen. Denken wir nur einmal an Chat-Boxen, beziehungsweise an die Kommunikation über die so genannten Sozialen Netzwerke und an Internet-Spiele. Da tummeln sich Leute, die junge Menschen ködern, indem sie sie verbal umgarnen und so tun, als würden sie sich für sie als Menschen interessieren. Auf diese Weise haben mexikanische Drogenbanden tatsächlich Nachwuchs rekrutiert – letztlich über Spiele auf dem Smartphone. Das sind Fakten! So etwas passiert bereits.
Aber die Schule soll auf das Leben vorbereiten. Das Internet gehört dazu. Wann wäre aus Ihrer Sicht der richtige Zeitpunkt gekommen, um die Kinder ans Internet heranzuführen, und wie müsste das aussehen?
Das Zauberwort lautet: altersgemäße Begleitung bei der Navigation im Internet. Es gibt zwei Aspekte: Zum einen die inhaltliche Medienkompetenz und zum anderen die technische Medienkompetenz. Wenn Kinder zu früh eine hohe technische Medienkompetenz haben, dann können sie über die verlockenden Angebote im Internet ihre eigenen Eltern und ihre Erziehung aushebeln. Das ist schädlich für die Kinder.
Sie sollten zunächst eine inhaltliche Medienkompetenz entwickeln. Dazu gehört, dass sie das echte, dreidimensionale Leben kennenlernen: Haptik, Berührung und Bewegung. Wenn sie dann mit zwölf, 13 oder 14 damit konfrontiert werden, dass sie am Computer dreidimensionale Dinge konstruieren sollen, dann kommen konstruktive Aspekte aus dem wirklichen und dem virtuellen Leben zusammen. Dann kann ein Schuh daraus werden. Aber nicht, wenn man Kindern zu früh einen unbegrenzten Zugang zum Internet verschafft. Das führt zu digitaler Verwahrlosung. Vielleicht nicht bei allen, aber bei vielen. Bei zwei Drittel aller Kinder muss man davon ausgehen, dass sie zumindest gefährdet sind.
Müsste Bremen allen Grundschulkindern die Tablets wieder wegnehmen?
Im Grunde: ja. Man müsste zumindest die Eltern viel stärker in die Pflicht nehmen. Man müsste sie fortbilden. Die Eltern müssten mehr über die Geräte wissen: Wie man sie steuern, wie man sie wirklich abschalten, wie man sie wirksam wegschließen kann. Die Geräte sollten nur zu bestimmten Zeiten und für bestimme Anwendungen zweckgebunden verfügbar gemacht werden.
Jede Bildschirmstunde sollte im Kindesalter mit einer Stunde an der frischen Luft, mit Sport oder Klettern ausgeglichen werden. Die Kinder müssen wieder lernen, zu grübeln. Sie müssen mit Materie umgehen, mit Bauklötzen oder mit Legosteinen bauen, basteln und werkeln, Ideen entwickeln. Es geht darum, dass sie lernen, kreativ mit Dingen umzugehen – im echten dreidimensionalen Raum. Das ist wichtig für die Hirnentwicklung und macht die Nutzung virtueller Medien schlussendlich erst effektiv und sinnvoll.
So läuft es in der Praxis aber häufig nicht. Statt dessen haben viele Kinder auch nachts irgendein Gerät an, das dann brummt. Das ist extrem schädlich. Es bringt den biologischen Rhythmus durcheinander und führt langfristig zu chronischen Krankheiten.
Halten Sie es tatsächlich für praktikabel, die Eltern stärker in die Pflicht zu nehmen? Die meisten müssen doch arbeiten, haben gar nicht die Zeit, um ihre Kinder ständig zu beaufsichtigen und sich abends dann auch noch selbst medial fortzubilden.
Stimmt. Das ist ein riesengroßes Problem, ein echtes Dilemma. Daher müsste man zumindest sicherstellen, dass die Kinder niemals allein sind mit ihrem Tablet. Auch müssten die Tablets effektiv passwortgeschützt sein. Wenn die Kinder im Schulnetz unterwegs sind, müsste der Administrator irgendwann sagen: "So, jetzt geht ihr alle nach Hause. Das Internet wird gesperrt und kann erst wieder durch die Eltern entsperrt werden." Wenn aber zuhause keine Eltern sind – was ja schon hochproblematisch ist – dann müssten entsprechende Hausaufgaben-Gruppen in der Schule die Geräte begleitet verwenden.
Wir brauchen so etwas wie eine digitale Emanzipation. Wir müssen wieder Herr der ganzen Geräte werden. Dazu müssen wir die Vorteile der Geräte extrahieren und die Nachteile schrittweise aussortieren. Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen. Sie brauchen unsere Begleitung. Das müssen wir organisieren, auch wenn es personalintensiv ist. Da stehen vor allem die Eltern nun einmal in der Pflicht. Gerade, weil es das Internet gibt.
Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Der Morgen, 7. Februar 2023, 7:40 Uhr