Interview
Bessere Versorgung trotz weniger Betten? Bremer Psychiatrie im Umbruch
Viele Psychiatrie-Patienten der Bremer Geno werden jetzt zu Hause versorgt, statt in der Klinik. Der Chefarzt betrachtet das als großen Fortschritt – und erklärt das Vorgehen.
Bremens Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) hält es für einen "Meilenstein" bei der Reform der Psychiatrie in Bremen, Christiane Rings vom Verband der Ersatzkassen schwärmt von "einem der größten Psychiatrieprojekte in Deutschland". Die Rede ist von einem auf zunächst sieben Jahre befristeten Modellversuch, der mit Jahresbeginn begonnen hat. Dabei rechnen die gesetzlichen Krankenkassen alle Kassenleistungen der Psychiatrie am Klinikverbund Gesundheit Nord (Geno) über ein gesondertes Budget ab: nach Zahl der behandelten Personen, nicht nach Bettenbelegung und Verweildauer.
Die Geno verspricht sich davon, dass sie nicht nur Psychiatrie-Betten abbauen, sondern zugleich die Versorgung der Psychiatrie-Patienten verbessern kann, indem sie diese nach Möglichkeit zuhause behandelt. Martin Zinkler, einer der Chefärzte der Psychiatrie, ist eigens, um den Modellversuch umzusetzen, von Heidenheim nach Bremen gekommen. buten un binnen hat ihn gefragt, was die Patienten tatsächlich davon haben.
Herr Zinkler, die Gesundheitssenatorin spricht von einem "großen Schritt für die Bremer Psychiatrie", den das Modellvorhaben bedeute. Inwiefern teilen Sie diese Auffassung und aus welchen Gründen?
Das Modellvorhaben ermöglicht uns eine flexible Behandlung, die sich an den Wünschen der Patientinnen und Patienten orientiert. Wir können ambulant behandeln, wir können stationär behandeln, wir können tagesklinisch behandeln, und wir können im Home-Treatment behandeln. Dabei behandeln wir Patienten akut, die sonst in die Klinik müssten, in dem wir sie zuhause aufsuchen – und zwar jeden Tag, auch am Wochenende.
Das klingt ein bisschen so, als ginge es ihnen darum, Patientinnen und Patienten auf den Stationen loszuwerden.
Nein. Es ist einfach so, dass sich viele Patientinnen und Patienten zu Hause wohler fühlen als im Krankenhaus. Hinzu kommt: Für viele, die eine akute Behandlung benötigen, gibt es im traditionellen System Wartezeiten, ehe sie in Tageskliniken unterkommen können. Folglich bleibt nur die stationäre Aufnahme als Notfall übrig. Das machen viele dann aus lauter Verzweiflung, damit ihnen überhaupt geholfen wird. Dabei fühlen sie sich im Krankenhaus gar nicht wohl.
Für diese Patienten wäre das Home Treatment, das wir nun anbieten können, die viel bessere Lösung. Auch dort nehmen wir Notfälle auf – und zwar sofort, ohne Wartezeiten. Dabei handelt es sich um Menschen, die sich an eines unserer fünf Behandlungszentren gewendet haben und die wir noch vor kurzem stationär hätten aufnehmen müssen. Dieser Kreis macht etwa die Hälfte unserer Home-Treatment-Patienten aus.
Die andere Hälfte setzt sich aus Patientinnen und Patienten zusammen, die sich auf den Stationen so weit stabilisiert haben, dass sie unter den Bedingungen des Home Treatments nach Hause können. Das heißt: Man vermeidet durch das Home Treatment stationäre Aufenthalte und verkürzt stationäre Aufenthalte. Das gilt unabhängig von der Diagnose.
Das hört sich sehr personalintensiv an. Woher nehmen Sie die Fachkräfte dafür?
Wir haben das Personal gewonnen, indem wir die Zahl der Betten reduziert haben. Das Personal arbeitet daher nun eben nicht mehr auf den Stationen, sondern in Home-Treatment-Teams. Darüber hinaus haben wir Personal hinzugewonnen, weil die Arbeit im Home-Treatment vielen attraktiv erscheint. Sie ist innovativ und nah an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten. Man muss auch nicht in Schichten arbeiten.
Wie setzt sich ein Home-Treatment-Team bei Ihnen zusammen, und wie gehen die Teams vor?
Wir, die Gesundheit-Nord, haben zur Zeit drei Teams: eines im Bremer Süden, eines im Osten und eines in der Bremer Mitte. Weitere Teams in Bremen-West und Bremen-Nord werden noch folgen. Pro Team stehen 15 Vollzeitstellen zur Verfügung. Da einige in Teilzeit arbeiten, kann man grob sagen: Ein Team besteht aus etwa 20 Leuten. Dazu gehören Ärzte, Psychologen, Fachkrankenpfleger, Ergotherapeuten, Bewegungstherapeuten und Sozialarbeiter.
Hinzu kommt in jedem Team ein so genannter Genesungsbegleiter. Dabei handelt es sich um Menschen, die selbst mal als Patientinnen oder Patienten Erfahrung mit der Psychiatrie gemacht haben und vor dem Hintergrund dieser persönlichen Erfahrungen im Team mitwirken können. Dafür gibt es eine Qualifikation, die sie erwerben können, quasi eine Fortsetzung der Selbsthilfebewegung.
Wie gehen diese Teams im Alltag vor?
Jedes Team kommt morgens zusammen und plant die Einsätze: Wer fährt wohin? Dann schwärmen alle aus – und suchen die Patienten zuhause auf, um mit ihnen in ihrem vertrauten Umfeld zu arbeiten statt im Krankenhaus.
Dafür bekommen wir in dem Modellvorhaben nicht mehr, aber auch nicht weniger Geld von den Krankenkassen. Wir können aber freier damit umgehen. Im Fachjargon heißt das "Regionalbudget". Wir können selbst entscheiden, wie wir welches Personal aus diesem Budget einsetzen.
Das ist ein großer Fortschritt. Traditionell hängt das Geld in den Krankenhäusern am belegten Bett. Das heißt: Je mehr Betten sie belegt haben, desto mehr Geld bekommen Sie und desto mehr Personal können Sie beschäftigen. Diese aus meiner Sicht veraltete Systematik wird mit unserem Modellvertrag zumindest befristet aufgehoben.
Trotzdem fragt man sich mit Blick auf die steigenden Zahlen psychisch Kranker, ob es nicht sinnvoller wäre, die Psychiatrie mit mehr Betten auszustatten statt Betten abzubauen.
Damit beschreiben sie eine traditionelle, in Deutschland etablierte Position. So ist man hier lange vorgegangen – mit dem Ergebnis, dass man heute in Deutschland im internationalen Vergleich sehr viele Psychiatrie-Betten hat. Und trotzdem gibt es lange Wartezeiten bei niedergelassenen Psychotherapeuten und Wartezeiten für tagesklinische Behandlungen.
Es ist ein Holzweg, immer mehr Betten zu schaffen. Zumal das Klinik-Bett die teuerste Option ist, die es überhaupt gibt. Und unsere Gesellschaft muss sich genau überlegen, wie viel Geld sie für solche Ausgaben zur Verfügung stellen will. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir mit dem gleichen Geld, das wir derzeit bekommen, in unserem Modellvorhaben eine bessere Versorgung als bisher gewährleisten können. Ich glaube auch, dass es sich schon beweisen lässt. Es handelt sich bei unserem nicht um das erste Modellvorhaben seiner Art, sondern vielleicht um das zwanzigste in Deutschland.
Quelle: buten un binnen.