Interview

Bremer Pädagogin: "Wir rauben Behinderten Recht auf Sexualität"

Eine Frau umarmt einen geistig behinderten älteren Mann.
Wichtig für die Sexualassistenz ist ein wertschätzender Umgang auf Augenhöhe. Bild: dpa | David Ebener

Auch Schwerbehinderte haben ein Recht auf Sexualität. Doch das wird oft missachtet. Darum geht es bei einem Kongress in Bremen. Eine Pädagogin erklärt, wieso er nötig ist.

Sexualität ist ein Menschenrecht. Nicht immer aber wird es geachtet. Gerade Menschen mit Behinderungen fühlen sich in unserer Gesellschaft oft in ihrer Sexualität eingeengt. Vor diesem Hintergrund richtet der Bremer Kulturverein ProdÁrt ab Dienstag erstmals einen Kongress rund um Sexualität von Menschen mit Behinderung aus. "Menschenrechte ohne Schranken" lautet der Titel.

Zu den Referentinnen gehört auch die Bremer Sexualpädagogin Meline Götz, die dem Verein bei der Konzeption des Kongresses beratend zur Seite stand. buten un binnen hat mit ihr über das Recht Schwerbehinderter auf Sex und über Sexualassistenz gesprochen.

Frau Götz, inwiefern nimmt unsere Gesellschaft Menschen mit Behinderungen das Recht aufs Ausleben ihrer Sexualität?

Menschen mit Behinderungen wird häufig die Sexualität aberkannt. So werden beispielsweise Personen im Rollstuhl, also mit einer sichtbaren Behinderung, gefragt: "Kannst Du überhaupt Sex haben? Wie hast Du Sex? Was machst Du da?" So etwas würden wir auf der Straße einen Menschen ohne Behinderung nicht fragen.

Auch gibt es Studien, die zeigen, dass Menschen mit einer sichtbaren Behinderung vorrangig als behindert wahrgenommen werden, also nicht in ihrer Geschlechtsidentität, also als Mann oder als Frau. Es wird von der behinderten Person gesprochen, nicht von einem Mann oder von einer Frau.

Schließlich werden grundlegende sexuelle Bedürfnisse Schwerbehinderter häufig als problematisch angesehen. Ein Beispiel: Ein Mann, der auf Pflege angewiesen ist, hat eine Erektion in der Pflege. Das wird oft als sexualisiertes Verhalten angesehen, als etwas Unnormales. Es wird nicht gesagt: "Ah, das ist ein grundlegendes Bedürfnis. Wir alle erigieren. Vielleicht ist das jetzt die einzige Gelegenheit für ihn, bei der Lust überhaupt stattfinden kann. Das hat nichts mit der Pflegerin oder dem Pfleger zu tun. Es fehlt an Möglichkeiten." Stattdessen wird eben häufig gesagt: "Die Person ist übersexualisiert. Das ist ein Problem."

Porträt von Meline Götz
Die Sexualpädagogin Meline Götz hat sich unter anderem auf die Arbeit mit Schwerbehinderten spezialisiert. Bild: Meline Götz

Betrifft das vor allem Menschen mit geistigen oder mit körperlichen Behinderungen?

Die Gruppe der Menschen mit Behinderungen ist heterogen. Es gibt Sehbehinderungen. Es gibt kognitive Beeinträchtigungen, es gibt Körperbehinderungen, es gibt psychische Erkrankungen, die auch dazu gehören. Es gibt ganz unterschiedliche Behinderungen, entsprechend muss man jeden Fall individuell betrachten.

Aber, es gibt eine Faustregel: Je größer der Unterstützungsbedarf ist, je mehr ich als behinderter Mensch darauf angewiesen bin, Unterstützung in Anspruch zu nehmen, desto schwieriger ist es häufig, sexuelle Bedürfnisse auszuleben.

Angenommen: Ich bin eine Person mit Körperbehinderung, sitze im Rollstuhl und kann mir selbst eine Assistenz aussuchen. Ich kann mich artikulieren, kann sagen, was ich möchte und was nicht und wohne allein in einer Wohnung. Dann kann ich eventuell trotz einer unter Umständen schweren Behinderung meine Bedürfnisse ausleben.
Wenn ich aber dieselbe Person bin, in einer Einrichtung lebe und das Pflegepersonal sagt: Nö, Übernachtungen Dritter sind hier nicht möglich, wir sind ein christlicher Träger, Sexualassistenz möchten wir nicht – dann kann ich meine Sexualität nicht ausleben. Sexuelle Selbstbestimmung ist immer abhängig von dem Kontext, in dem ich lebe, nicht nur von der Art der Behinderung.

Sie sprechen von Sexualassistenz. Was genau versteht man darunter?

Ganz stark heruntergebrochen handelt es sich dabei um eine sexuelle Dienstleistung gegen Geld. Ich werde häufig gefragt, worin der Unterschied zwischen Sexualassistenz und Prostitution besteht. Was wichtig ist: Es steht nicht zwangsläufig Sex im Vordergrund. Es geht um eine Beziehungsebene, um gemeinsames Nacktsein, um Hilfe zur Selbstbefriedigung, um Hilfe beim partnerschaftlichen Sex. Es kann auch sexuelle Bildung umfassen, dass die Sexualbegleitung etwas erklärt. Es ist vielschichtig und setzt ein bestimmtes Menschenbild voraus: Wertschätzung, Begegnungen auf Augenhöhe.

Gibt es entsprechende Angebote im Land Bremen überhaupt?

Schwierig. Es war schon vor Corona schwierig. Durch Corona haben viele aufgehört, in dem Bereich zu arbeiten. Es ist superschwierig, Sexualassistenzen zu finden. Es gibt sie, aber man muss sie suchen, und sie sind viel teurer als andere sexuelle Dienstleistungen. Außerdem werden Sexualassistenzen hauptsächlich von Frauen für Männer angeboten. Männer für Frauen oder Frauen für Frauen oder auch Männer für Männer zu finden, ist fast unmöglich.

Was für Qualifikationen muss mitbringen, wer Sexualassistenzen anbietet?

Im Prinzip könnten Sie jetzt beschließen: Ich bin Sexualassistent, könnten eine entsprechende Website einrichten und das anbieten. Es handelt sich um keinen geschützten Begriff. Aber es gibt ein paar Institute wie das Institut zur Selbstbestimmung Behinderter (ISBB) in Trebel, die Initiative Sexualbegleitung (InSeBe) oder auch Kassandra e.V., die versuchen, Standards zu etablieren und ausbilden zur Sexualbegleitung oder auch zur Sexualassistenz.

Wer eine Sexualassistenz sucht, sollte sich darüber informieren, welche Ausbildung die mögliche Assistenz hat. Häufig sind es Personen, die aus der Pflege kommen und eine Zusatzausbildung als Sexualassistentin oder Sexualbegleiterin. Wenn eine Person einfach nur sagt: Ich bin Sexualassistentin und es geht aus nichts hervor, was diese Person tatsächlich gelernt hat – dann wäre ich vorsichtig.

Wer bezahlt eine Sexualassistenz, und was kostet sie?

Nach meiner Erfahrung fängt es bei etwa 120 Euro pro Stunde an. Die Kosten müssen von der Person, die die Assistenz in Anspruch nimmt, selbst getragen werden. Leider haben viele Menschen in der Eingliederungshilfe nur wenig Geld. Das ist natürlich ein Problem.

Grundsätzlich wichtig ist mir noch der Hinweis, dass für Menschen mit Behinderungen nicht unbedingt ausschließlich Sexualassistenzen infrage kommen. Ein Mensch mit Behinderung kann eventuell auch etwa selbst entscheiden, ob er ins Bordell gehen möchte. Ich empfehle grundsätzlich, zunächst möglichst niedrigschwellig zu schauen: Was ist der Wunsch? Brauche ich eine Aufklärung, brauche ich Hilfe zur Selbstbefriedigung, oder geht es mir darum, Sex zu erleben?

Viele Menschen mit Behinderung kritisieren immer wieder, dass es Sonderleistungen für Behinderte gibt: gesonderte sexuelle Dienstleitungen, die dann so teuer sind, dass sie sich kaum ein Mensch leisten kann. Es wird immer wieder gefordert, dass bei sexuellen Dienstleistungen an alle Menschen gedacht werden soll statt Personengruppen, wie eben Behinderte, auszuschließen.

Geben und Nehmen: Was steckt hinter gutem Sex?

Bild: Radio Bremen

Autor

Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 2. Oktober 2024, 19.30 Uhr