Infografik
Immer mehr junge Erwachsene in Bremen bekommen Antidepressiva
Auch Depressionen werden häufiger diagnostiziert. Haben junge Menschen heute weniger Hemmungen, über psychische Belastungen zu sprechen – oder was steckt dahinter?
Mehr Fälle von Depression, mehr psychische Störungen, mehr Antidepressiva: Nach der Pandemie hat sich die psychische Gesundheit von jungen Erwachsenen in Bremen offenbar verschlechtert. Das zeigen Zahlen aus einer repräsentativen Studie der Techniker Krankenkasse. Doch welche Ursachen haben die seelischen Krankheiten unter jungen Menschen? Und sind Medikamente das richtige Mittel der Wahl? Bremer Experten und Expertinnen antworten.
Was genau hat man herausgefunden?
Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse (TK) nehmen sowohl mehr Studierende als auch mehr junge Erwerbstätige unter 35 Jahren Antidepressiva als noch vor der Pandemie. Waren es 2019 3,22 Prozent, sind es 2022 4,64 Prozent unter den Studenten und 3,16 Prozent versus 4,79 Prozent unter den Beschäftigten.
Auch die Anzahl der diagnostizierten Depressionen ist anteilig gestiegen. Bei den angehenden Akademikern und Akademikerinnen um fast zwei Prozentpunkte von 9,12 2019 auf 10,96 Prozent 2021, bei den jungen Berufstätigen von 8,57 auf 9,70 Prozent. Einem ähnlichen Trend folgt der Anteil junger Menschen mit psychischen Störungen.
Anteil junger Erwachsenen im Land Bremen, die Antidepressiva bekommen
Anteil junger Erwachsenen im Land Bremen mit diagnostizierter Depression
Was sind die Ursachen?
Die Zunahme an diagnostizierten Depressionen und psychischen Erkrankungen ist kein ganz neuer Trend. Allerdings hat sich dieser mit der Pandemie verschärft, wie die Leiterin der TK-Landesvertretung in Bremen, Sabrina Jacob, bestätigt. Die Studierenden hat die Krankenkasse genauer unter die Lupe genommen und eine weitere, bundesweite Umfrage gestartet. Ihre Ergebnisse zeigen, dass vor allem Stress und Ängste die meisten deutschen Studierenden belasten. 29 Prozent leidet zudem unter Einsamkeit.
Die digitale Lehre, die seit der Pandemie häufiger zum Einsatz kommt, wird zwar von der Mehrheit der Studenten gut bewertet, mehr als zwei Drittel erkennen jedoch, dass sie dadurch weniger soziale Kontakte haben. Zum Stress tragen maßgeblich Prüfungen bei, gut ein Drittel der Befragten leidet ebenfalls unter der Doppelbelastung von Studium und Nebenjob.
Belastung deutscher Studierenden im Jahr 2023
Bei den jungen Erwerbstätigen kann man hingegen über die Gründe nur spekulieren. Aufgrund von früheren Umfragen weiß man jedoch, dass die Isolation im Homeoffice, die ständige Erreichbarkeit sowie die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf während der Coronapandemie Beschäftigten im Allgemeinen stark zugesetzt hat. Die psychische Belastung hat zugenommen.
Laut einer Umfrage der Krankenversicherung DAK-Gesundheit Niedersachsen hatten beispielsweise Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen 2022 so oft wegen Depression oder Ängste gefehlt wie kaum zuvor, mit dem größten Anstieg in den jüngeren Altersgruppen. Ähnliche Schlussfolgerungen gab es in Bremen: Im Vergleich zu noch vor zehn Jahren gab es einen Anstieg bei den Fehlzeiten um 22 Prozent. Besonders betroffen sind die Altersgruppen unter 35 Jahren.
Was sagen die Experten dazu?
Cordula Schrör, Beraterin beim Bremer Studierendenwerk, merkt, dass Termine bei der psychologischen Beratungsstelle stark gefragt sind. Inzwischen gebe es eine Wartezeit von neun Wochen für Erstgespräche. Erschöpfung und Konzentrationsprobleme sind Thema. Außerdem handele es sich häufiger um dringendere Fälle, weil die Betroffenen etwa Suizidgedanken äußerten.
Uwe Gonther, ärztlicher Direktor beim Ameos-Klinikum in Bremen, bestätigt ebenfalls eine deutliche Zunahme an Depressionen und ähnlichen Erkrankungen unter jungen Erwachsenen seit der Pandemie. Das sei "kein zufälliger Zeitraum", denn Vereinsamung und Überforderung haben auch bei jungen Berufstätigen Auswirkungen gehabt. Möglicherweise hat bei ihnen ebenfalls die Angst vor dem Verlust des Jobs eine Rolle gespielt, vor allem bei prekären Jobs.
Ebenfalls möglich ist aber auch, dass bei dem Anstieg der diagnostizierten Depressionen soziale Entwicklungen eine Rolle spielen, wie Experten bestätigen. Das Bewusstsein für seelische Krankheiten ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Junge Menschen haben demnach heute weniger Hemmungen, darüber zu reden und sich Hilfe zu holen.
Was sagen Betroffene?
Für Psychologie-Studentin Anika Küchenhoff ist die Belastung im Studium "sehr hoch". Der hohe Notendruck schafft besonders viel Druck, genauso wie die Anwesenheitspflicht. Das verursacht teilweise körperliche Symptome, etwa Kopfschmerzen und Anspannung. Dies wiederum führt zu weniger Konzentration – ein Teufelskreis. Besonders schlimm wird es in der Prüfungszeit.
Andere Studierende sehen das ähnlich. So sagt ein junger Mann gegenüber buten un binnen, der Stresspegel sei in der Klausurphase auf einer Skala von null bis zehn "bei zehn". Ein weiterer Student erklärt, vor allem Abgabetermine und Klausuren seien ein großer Stressfaktor.
Es ist gerade ein bisschen viel – alles.
Männlicher Studierender
Welche Lösungen gibt es?
Die Bremer Fachärztin für Psychiatrie Wiebke Greggersen sagt im Gespräch mit buten un binnen, Antidepressiva seien kein Wundermittel. Sie können helfen, die Kraft zu finden, um Veränderungen im Leben vorzunehmen. Aber sie können die Stressursachen per se nicht beseitigen.
Antidepressiva wurden geschaffen für wirklich schwerkranke Menschen. Sie können den Akku wiederaufladen, um beispielsweise eine Psychotherapie zu ermöglichen. Sie können aber nicht mein Lebensumfeld ändern.
Wiebke Greggersen, Oberärztin
Ähnlich sieht es die Bremer TK-Leiterin Jacob: "Medikamente sind in vielen Fällen das richtige Mittel der Wahl, aber eine Tablette kann nicht in jeder Belastungssituation die Lösung sein". Man müsse schauen, ob die Rahmenbedingungen sich ändern ließen.
Bei Studierenden könnte man eventuell die Prüfungszeiten entzerren, bei Arbeitnehmern spielt vielleicht auch das Arbeitsumfeld eine Rolle. Es gilt also, dieses positiver zu gestalten, etwa durch Bewegungs- oder Entspannungsangebote. Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf könnten möglicherweise ebenso dabei helfen.
Nebenwirkungen nicht zu unterschätzen
Psychiater Gonther betrachtet die Nutzung von Antidepressiva ebenfalls kritisch. "Man darf nicht vergessen, dass sie viele Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringen", erläutert er. "Sie sind alles andere als unproblematisch." Bei leichten oder mittelschweren Depressionen könnte eine Psychotherapie eher geeignet sein. Soziale Unterstützung sei ebenfalls wichtig, genauso wie Bewegung.
Es ist nachgewiesen, dass sozialer Zusammenhalt ein wirksames Mittel gegen Depression ist.
Uwe Gonther, Psychiater
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 17.07.2023, 19:30 Uhr