Fragen & Antworten
Wieso auch Bremerinnen Genitalverstümmelungen drohen
Der Gynäkologe Matthias von Rotenhan betreut in seiner Praxis in Walle rund 200 Frauen, deren Genitalien beschnitten wurden. Er erklärt, wieso die Tradition so gefährlich ist.
Was ist Genitalverstümmelung?
Bei der Genitalbeschneidung, auch Genitalverstümmelung genannt, werden die Genitalien der Frau abgetrennt oder verletzt. Wie und was beschnitten wird, hänge von der Ethnie ab, in der die Frau aufwächst, erklärt der Bremer Gynäkologe Matthias von Rotenhan. Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet zwischen vier verschiedenen Formen der Verletzung:
- Der sichtbare Teil der Klitoris wird entfernt.
- Klitoris und Schamlippen werden entfernt.
- Klitoris und Schamlippen werden entfernt, die Scheide wird bis auf eine kleine Öffnung zugenäht.
- Hierunter fällt alles, was nicht in die anderen Kategorien fällt. Dazu gehören Verbrennungen oder Verätzungen mit Pasten, die auf den Genitalbereich aufgetragen werden.
Warum werden weibliche Genitalien beschnitten?
Über die genaue Herkunft der Beschneidung sind sich Experten nicht sicher. Die ersten geschichtlichen Nachweise für Beschneidungen gingen auf etwa 600 vor Christus zurück, erklärt der Gynäkologe. So sei ein Papyrus aus dem alten Ägypten gefunden worden, dass die Rechnung für die Beschneidung einer jungen Frau nachweist.
Der Experte vermutet, dass die Genitalbeschneidung als Instrument zur Unterdrückung von Frauen und ihrer Sexualität eingeführt wurde. Bis heute ist sie laut dem Experten in manchen Regionen in Afrika Tradition und gehöre zur sozialen Norm. Nur eine beschnittene Frau gelte dort als heiratsfähig. Viele sähen in der Beschneidung eine Art gute Tat, sagt er: "Das heißt, dass Mütter, die ihre Töchter beschneiden lassen, das Gefühl haben, ihnen eine gute Zukunft zu ermöglichen. Denn wird sie nicht beschnitten, kann sie nicht heiraten."
Zur Genitalbeschneidung von Frauen halten sich seit Jahrzehnten Mythen, fügt der Arzt hinzu: So gebe es in manchen Kulturen den Irrglauben, dass Männer, die mit einer Klitoris in Berührung kommen, impotent würden. Außerdem soll die Lust der Frau mit der Beschneidung eingeschränkt werden. Dahinter stehe die Befürchtung, dass sich die Frau, wenn sie nicht beschnitten ist, mit anderen Partnern einlässt.
Kann die Beschneidung rückgängig gemacht werden?
Das hängt von der Art der Beschneidung ab. Gerade Frauen, deren Scheide zugenäht wurde, haben fast immer gesundheitliche Probleme. In so einem Fall sei eine Öffnung der Scheide ratsam. Eine Wiederherstellung der Klitoris hingegen sei sehr viel komplizierter, erklärt der Arzt.
Inwiefern beeinflusst eine Beschneidung die Sexualität einer Frau?
Viele Frauen können sich nicht an ihre Beschneidung erinnern, da sie zu dem Zeitpunkt noch sehr jung waren. Dadurch lässt sich auch später nur schwer der Einfluss auf das Sexualleben erkennen, da es für viele junge Frauen keine Vergleichswerte im unbeschnittenen Zustand gibt. Trotzdem sei auch mit Beschneidung eine erfüllte Sexualität möglich, betont von Rotenhan. Allerdings seien gerade alltägliche Aktivitäten wie der Toilettengang oder die Menstruation für Frauen mit einer zugenähten Scheide besonders schmerzhaft: "Die Frauen brauchen teilweise zehn Minuten auf der Toilette, weil es nur rauströpfeln kann."
Wie viele Frauen sterben an und infolge einer Beschneidung?
Die Sterblichkeit bei der Beschneidung ist hoch. Schätzungen zufolge sterben rund zehn Prozent der jungen Mädchen nach dem Eingriff. Weltweit sterben damit rund 300.000 junge Mädchen pro Jahr. Zum Vergleich: Während der Ebola-Epidemie seien in drei Jahren knapp 15.000 Menschen gestorben: "Damit sterben aktuell jährlich mehr als 20-mal so viele Mädchen an einer Beschneidung", so der Gynäkologe.
Wie viele Frauen in Deutschland wurden beschnitten?
Das lässt sich nicht genau sagen. Schätzungen zufolge sind es weltweit bis zu 80.000 Mädchen und Frauen, so der Gynäkologe. Ungefähr 10.000 junge Mädchen seien hierzulande von der Beschneidung bedroht. "Auch junge Mädchen, die in Deutschland geboren werden, sind dem Risiko ausgesetzt. Traditionen werden nicht einfach so abgestreift." Eine Gefahr sei zum Beispiel die Reise der Familie in die Heimat, um dort die Beschneidung machen zu lassen. Manchmal würden Beschneiderinnen allerdings auch eingeflogen.
Wie kann den Mädchen und Frauen geholfen werden?
Im ersten Schritt müsse die Genitalverstümmelung als solche erkannt werden, sagt der Experte. Im Medizinstudium ist die Beschneidung von Frauen kein Thema – deshalb musste sich auch der Gynäkologe zu dem Thema schulen lassen. Erkennen Gynäkologinnen und Gynäkologen eine Beschneidung, sei es ihre Aufgabe das Thema in einem geschützten Raum anzusprechen. Entsetzen, Mitleid oder Wertung seien dabei fehl am Platz, um die Frauen nicht zu verschrecken. "Viele kommen her und haben mitbekommen, dass Beschneidungen nicht normal sind. Sie sollen sich nicht fühlen wie ein Freak", erzählt von Rotenhan aus Erfahrung.
Als Europäer könne man nur wenig gegen die Beschneidung unternehmen, so der Gynäkologe. "Wir können nicht in andere Länder gehen und ihnen ihre Traditionen verbieten." In Deutschland sei Aufklärungsarbeit wichtig, um Genitalbeschneidungen zu verhindern. Langfristig gebe es nur eine effektive Waffe gegen die Beschneidung von jungen Mädchen, sagt er und erklärt:
Wenn alle Männer auf der Welt sagen würden: ‚Ich heirate nie wieder eine beschnittene Frau‘, dann muss keine Frau mehr beschnitten werden.
Bremer Gynäkologe Matthias von Rotenhan
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 17. Oktober 2024, 19:30 Uhr