Interview

Henning Scherf über Corona: "Systemrelevant sind wir alle"

Bild: dpa | Carsten Rehder

Bremens Ex-Bürgermeister spricht über das Leben in seiner Senioren-WG und erklärt, wie er sich durch Corona vom Omi-Knutscher zum Omi-Versteher gewandelt hat.

Er ist oftmals der Lobbyist derer, deren Stimmen sonst kaum gehört werden. So auch jetzt in Zeiten von Corona: In diesen Tagen macht sich Bremens Ex-Bürgermeister Henning Scherf viele Gedanken vor allem um die "Alten". Sie sind durch die Corona-Pandemie besonders gefährdet. Und er erlebt gerade am eigenen Leib, was das Kontaktverbot mit sich bringt – und plädiert dafür, aus den Erfahrungen mit Corona die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Herr Scherf, wie fühlt es sich für Bremens berühmtesten Händeschüttler an, keine Hände mehr schütteln zu dürfen?

Ach, es kommt ja noch dicker. (Er lacht.) Ich bin ja eigentlich der Umarmer. Manche haben mich ja sogar als Omi-Knutscher bezeichnet. Das geht jetzt leider nicht mehr. Jetzt müssen wir eine neue Form entwickeln, eine Art Distanznähe. Das klappt aber auch ganz gut. Ich habe da wunderbare Erfahrungen machen können, wie man sich auf Abstand begegnet, ohne sich dabei zu verlieren.

Erzählen Sie doch mal.

Gerade heute beim Einkaufen stand eine ältere Frau vor einem Gemüsemarktstand neben mir. Sie hat dann gesagt, ich will hundert werden. Da habe ich gesagt, ich will auch hundert werden. Und dann hat sie gesagt, ich bin aber schon 99. "Donnerwetter!" dachte ich da. Sie hat mir dann erzählt, dass sie sich noch selbst versorgt und einkaufen geht. Und dass sie nach dem Motto lebt: "Die Jugend hat man mir genommen, das Alter lasse ich mir nicht nehmen." Das hat mir gut gefallen! Da hätte ich sie gerne in den Arm genommen – habe ich aber natürlich nicht. Und wir haben uns trotzdem sehr gut verstanden.

Sie selbst sind 81 und leben in Bremens berühmtester Senioren-WG. Frühstücken Sie dort noch immer gemeinsam?

Nein, das tun wir nicht. Da sitzen wir zu nah aneinander. Aber wir treffen uns jeden zweiten Tag, sitzen auf Abstand und trinken unseren Tee. Am liebsten im Garten an der frischen Luft im Grünen. Wir achten sehr aufeinander, wir halten aber auch Abstand. Eingekauft wird von einem Studenten, den wir dafür auch bezahlen. Ich glaube, wir haben eine Form gefunden, mit der Bedrohung vernünftig umzugehen, ohne durchzudrehen und übergriffig zu werden.

Wie empfinden Sie die Einschränkungen persönlich?

Ich erlebe das wie ein Geschenk, dass ich plötzlich keine Termine habe, die mich jagen. Ich habe ja sonst bis zu 200 Vorträge im Jahr gehalten. Plötzlich ist alles abgesagt. Ich lese so viel wie in meinem ganzen Leben nicht. Ich habe jetzt zum erstem Mal "Ulysses" richtig durchgelesen. Gerade lese ich "Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil. Ich habe diese Bücher früher immer nur angefangen – und dann irgendwann aufgegeben.

Das sind Bücher, die vor rund einem Jahrhundert geschrieben wurden. Was nehmen Sie aus solcher Lektüre mit?

Es ist nicht so, dass sich alles wiederholt. Aber daraus, was diese Autoren damals geschrieben haben, kann man Schlüsse für die eigene Gegenwart ziehen. Und ich denke, es hilft sogar, um die eigene Zukunft neu zu sortieren. Wir sind ja im Augenblick dabei, zu überlegen "Was wird eigentlich aus dieser Pandemie? Was verändert sich?"

Haben Sie darauf eine Antwort?

Es wird eine kollektive, globale Erfahrung sein, die unser Verhalten ändert. Ich beobachte das jetzt schon im Umgang mit dem Gesundheitswesen. Es gibt niemanden mehr, der im Sinne des Neoliberalismus sagt, wir wollen weiter sparen, sparen, sparen. Das ist richtig abgeräumt. Die Notwendigkeit eines verlässlichen Gesundheitssystems ist in den Köpfen gegenwärtig. Und ich rate allen Politikern, daraus richtige Konsequenzen zu ziehen. Und das gleiche gilt für die Pflege. Wir haben es Jahrzehnte lang nicht geschafft, die dramatische Unterfinanzierung der Leute dort in die Köpfe der Menschen zu kriegen. Jetzt ist einer großen Mehrheit klar geworden, dass wir unsere Alten, Gebrechlichen und Pflegebedürftigen nicht allein lassen dürfen. Da muss eine neue große Schwerpunktentscheidung getroffen werden. Und ich rechne damit, dass die Pandemie das bewirkt.

Es werden aber auch andere Fragen diskutiert. So gibt es beispielsweise Mediziner, die erwägen, schwer an Corona erkrankte, alte Menschen mit Vorerkrankungen nicht mehr intensivmedizinisch zu behandeln, sondern stattdessen palliativ, also im Hinblick auf einen schmerzfreien Krankheitsverlauf. Hintergrund sind Statistiken, wonach die Überlebensrate dieser Risikogruppen vergleichsweise gering ist. Was halten Sie von solchen Überlegungen?

Das ist grausam. Mir fallen da sofort wieder die Euthanasie-Entscheidungen in der Nazizeit ein, wo dann über "unwertes Leben" von solchen Medizinern entschieden worden ist. Das darf uns nicht wieder unter die Finger kommen, dass Nützlichkeit und Verwendbarkeit darüber entscheiden, ob ich leben darf oder nicht. Jeder von uns, gerade wer es besonders nötig hat, weil er gebrechlich ist, weil er Minderheiten angehört, hat den vollen Schutz der Grundrechte. Und den vollen Respekt aller Mitmenschen. Da habe ich wenig Verständnis dafür, dass Leute neue ethische Problem an die Wand malen.

Halten Sie die Notmaßnahmen, die bislang getroffen wurden, für angemessen?

Ja. Ich erlebe eine kluge Praxis bei den Gesundheitsdiensten, eine kluge Praxis bei den Pflegediensten und eine kluge Praxis bei denen, die für die Lebenserhaltung sorgen. Also die, die dafür sorgen, dass man auch etwas zu Essen bekommt und einkaufen gehen kann. Schrittweise kapieren immer mehr Leute, dass diese Berufe lebenswichtig sind. Wir nennen das ja leider immer "systemrelevant". Das ist der falsche Begriff. Denn systemrelevant sind wir alle. Aber die, die wir dringend brauchen, weil sie lebensnotwendig sind, die müssen hoch geschätzt, geschützt und arbeitsfähig gehalten werden.

Die Schaukel in Ihrem WG-Garten bleibt wegen der Maßnahmen allerdings leer. Vermissen Sie nicht Ihre Enkelkinder?

Die Kinder und Enkelkinder telefonieren ja jeden Tag mit uns. Wir zoomen und skypen. Und sie fragen immer, ob wir auch auf alles achten. Das empfinde ich auch wieder als eine Zuwendung. Es ist fast paradox. Obwohl sie uns nicht besuchen können, sind sie ganz dicht an uns dran. Sie begleiten uns, geben uns Ratschläge. Wir fühlen uns von unseren Kindern und Enkelkindern getragen in dieser Lebenslage.

Gegängelt fühlen Sie sich nicht?

Nein. Das ist vielmehr eine besondere Form der Sorgsamkeit und Achtsamkeit. Und die gefällt mir.

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Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 27. April 2020, 19:30 Uhr

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