Resolute Pionierin: Erinnerungen von Oldenburgs erster Staatsanwältin
Die 86-Jährige fasste früh den Plan: Jura wollte sie studieren. Sie erzählt vom steinigen Weg dahin, vom Umgang mit Mord und von ihrer Mitschülerin Ulrike Meinhof.
In einer Zeit, als unverheiratete Frauen noch Fräulein genannt wurden, war ihre Karriere etwas Besonderes: Abitur in Oldenburg, Jura-Studium in Göttingen und Bonn, Examen, juristische Laufbahn mit Stationen an verschiedenen Gerichten, schließlich Staatsanwältin. Als Marie-Luise Schmidt jung war, waren Juristinnen nicht anerkannt. Heute blickt die inzwischen 86-Jährige auf eine bewegte Arbeitszeit zurück. Zu ihren Fällen gehörten Mofafrisierer genauso wie Mörder. In der Gesprächszeit mit Bremen Zwei erzählt Marie-Luise Schmidt auch von ihrer Klassenkameradin Ulrike Meinhof, die später RAF-Terroristin wurde. Und von ihrer Arbeit am Fall des Mädchenmörders Ronny Rieken Ende der 90er Jahre, der für Schlagzeilen sorgte.
"Ich bin ein Mensch, der das meistens mit Humor betrachtet", sagt Marie-Luise Schmidt im Gespräch mit Bremen Zwei, als sie auf ihre Anfänge zurückblickt. Frauen könnten nicht logisch denken – mit solchen Äußerungen sei sie von einem Oberregierungsrat in Oldenburg in ihrer Ausbildung begrüßt worden. Deshalb würde sie mit "Minus 3 Punkten" starten. Aber nicht nur ihn überzeugte sie schnell von ihren Fähigkeiten.
Mit zwölf sagte ich: 'Ich werde Juristin.'
Marie-Luise Schmidt
Was hat überhaupt dazu geführt, dass sie sich für einen Weg entschied, der damals viele Hürden mit sich brachte? Auslöser war die Begegnung mit einem Richter, wie sie weiter erzählt. Zu Besuch bei ihm und seiner Familie erblickte sie dessen Robe und das Barett, eine Kopfbedeckung ohne Krempe. Als sie beides anprobieren durfte, fragte sie die Gastgeberin und ihre Mutter: "Steht mir das?" In diesem Augenblick sei ihr klar gewesen: "Ich werde Juristin."
Alleinerziehend im Nachkriegs-Oldenburg
Doch eine Wunschausbildung zu machen war bei den damaligen Umständen nicht selbstverständlich. Ihre Mutter kam, wie sie erzählt, aus einer sehr reichen Familie. "Die aber durch die Inflation ihren Reichtum verloren hatte." An ihren Vater erinnere sie sich nicht. "Der wurde mit 39 eingezogen, da war ich vier Jahre alt." Später wird ihr Vater vermisst, ihre Mutter, alleinerziehend, hat deshalb keinen Anspruch auf dessen Pension. Durch Beziehungen schließlich verbessert sich die finanzielle Lage etwas. Und dennoch: Ein Jura-Studium? Das bleibt ein Wagnis.
Doch ihre Eltern hätten besprochen, dass die Kinder die Ausbildung bekommen sollen, die sie haben können und möchten – und den Beruf ergreifen sollen, den sie wollen. "Deswegen konnte ich meiner Mutter immer sagen: 'Vater hätte gewollt, dass ich Jura studiere'." Ihr Vater habe wohl auch Jurist werden wollen, ihm war es nicht möglich gewesen.
Mit RAF-Terroristin Meinhof in der Schule
Doch vor dem Studium stand erst einmal der übliche Schulweg. Marie-Lusie Schmidt besuchte die Liebfrauenschule in Oldenburg, später die Mädchen- und Nonnenschule. Weil die keine gymnasiale Oberstufe hatte, kam ein weiterer Wechsel zur Cäcilienschule. Drei Klassenkameradinnen begleiteten sie, darunter Ulrike Meinhof, die später als RAF-Terroristin bekannt wurde. "Als junges Mädchen war sie eine sehr beliebte Mitschülern", sagt Schmidt heute. Aber sie seien sehr unterschiedlich gewesen. "Ulrike las Kant mit zwölf Jahren. Mich interessierten Sprachen. Ich bin noch nie eine große Leseratte gewesen, im Gegensatz zu Ulrike. Aber trotzdem haben wir uns gut verstanden. Ulrike war eine wirklich sehr angenehme Klassenkameradin."
Ob sie später den Weg ihrer vormals so angenehmen Mitschülerin Meinhof verfolgte habe? "Ich habe das nicht verfolgt, aber es hat mich verfolgt", so Schmidt mit großer Klarheit. Als Meinhof, inzwischen Journalistin, 1970 in den Untergrund ging, bekam Schmidt Besuch von der Kriminalpolizei, so wie auch andere aus ihrer Klasse. Wie sie sich verhalten würde, wenn Ulrike käme und Unterschlupf suche, hätten die Beamten gefragt. "Dann habe ich ihnen gesagt, dass die Frage dumm sei. Weil Ulrike nie im Leben denken würde, dass meine Einstellung auf ihrer Linie sein würde. Sie würde nie kommen, weil sie auch meinen Beruf kennt."
Nach einer heftigen Debatte seien die Polizisten gegangen, doch wegen ihres Auftretens sei sie wohl vom Verfassungsschutz überprüft worden. "Das hat mir mein Chef später gesagt."
Studium in Göttingen: "Versprechen sie, dass sie heiraten"
Im Göttingen der 50er Jahre begann Marie-Luise Fischer mit dem Jura-Studium. "Ein schönes Leben", nur 4.500 Studierende wären es damals gewesen, insgesamt. Und unter den 300 Erstsemestern in der Stadt waren vielleicht neun Frauen – vier oder fünf davon studierten Jura.
Nach erfolgreichem Studium wollte die junge Frau promovieren. Viele Rechtsgebiete habe es damals noch nicht gegeben, deshalb sei es schwer gewesen, eine Doktorarbeit zu finden. Sie versuchte es bei zwei Professoren in Göttingen. "Einer sagte zu mir: 'Wenn sie mir versichern, dass sie heiraten, dann kann man über eine Doktorarbeit reden." Als Ehefrau würde sie den Beruf ja nie ausüben, begründete der Mann sein Anliegen. Keiner würde wissen, dass sie eine Frau Doktor wäre. "Daraufhin habe ich gesagt: 'Ich glaube, ich bin hier fehl am Platze' und bin gegangen."
Auch das zweite Gespräch war nicht zufriedenstellend. Und so hat Marie-Luise Schmidt am Ende nicht promoviert. Geheiratet übrigens auch nicht.
Der erste große Massen-Gentest in Deutschland
Warum wurde sie eigentlich Staatsanwältin – warum wählte sie keine andere Richtung, wie Strafverteidigerin zum Beispiel? "Ich bin keine gute Anwältin, denn Geld von anderen kassieren, das kann ich nicht. Ich bin überhaupt keine Geschäftsfrau", erklärt sie ihre Entscheidung. Auch Richterin sei unpassend für sie gewesen – zu einsam. "Als Staatsanwältin konnte ich mit Leuten zusammenarbeiten, mit Kripoabeamten, und ich habe ja auch Jugendsachen gemacht. Ich konnte Gespräche mit Jugendlichen führen. Das war mir wichtig: der Umgang mit den Menschen."
Die Fälle, mit denen Marie-Luise Schmidt es als Staatsanwältin schließlich zu tun bekam, waren teilweise spektakulär, wurden bundesweit bekannt. Zum Beispiel der vom Mädchenmörder Ronny Rieken. 1998 erhielt der Sexualstraftäter eine lebenslange Haftstrafe. Er hatte in Niedersachsen unter anderem zwei Mädchen vergewaltigt und getötet. Überführt wurde er durch den bis dahin größten Massen-Gentest in Deutschland. Für Schmidt ist das "eine der wichtigsten und größten und bedeutensten Erfindungen: der DNA-Beweis."
Dieses Jahr stellte Ronny Rieken einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung. Das Landgericht Lüneburg lehnte ab. "Ich wäre auch entsetzt gewesen, wenn er entlassen worden wäre", sagt Schmidt, die den Fall weiter verfolgt habe.
Umgang mit schweren Straftaten
In ihrem Berufsleben habe es eine Reihe gravierender Fälle gegeben, erinnert sich Schmidt. "Am schlimmsten waren die Sexualstraftaten", so die Pensionärin weiter. Besondere Fälle könne man nicht nicht einfach verdrängen, damit müsse man fertig werden.
Jeder Menschen hat solche Erlebnisse, ob er will oder nicht.
Marie-Luise Schmidt
Und doch habe sie sich eine Art Schutzschild angeeignet. "Ich habe mir eins angewöhnt: Dinge, die unwichtig sind, zu verdrängen. So ein gutes Gedächtnis wie ich sonst habe: Da habe ich keins, da kann ich mich nicht mehr erinnern."
Und was wünscht sie sich noch persönlich?
Reisen, das ist eine große Leidenschaft von Marie-Luise Schmidt. "Aus Neugier." Sie lerne gerne Menschen kennen, Landschaften interessierten sie. Deshalb habe sie Asien, Indonesien und Thailand bereist. Rumgefahren sei sie – "mit einem Fahrer, weil ich mich als Frau nicht alleine getraut habe. Vielleicht auch berufsbedingt, ich habe immer etwas Angst gehabt."
Welche Reiseziele hat die 86-Jährige heute noch? "Neuseeland, Argentinien und Kanda – aber da sind mir die Flüge zu weit", sagt Schmidt. Zugeständnisse müsse sie machen in ihrem Alter. Aber "wenn ich genug Geld habe, möchte ich noch mal eine große Schiffsreise machen. Am besten in Hamburg aufs Schiff steigen und von mir aus bis nach Afrika runter bis zu den Seychellen und wieder in Hamburg landen."
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Gesprächszeit, 1. Dezember 2021, 18 Uhr