Interview

Bremer Pflegeforscherin zu Sterbehilfe: Suizidassistenz ist Teamarbeit

Hände eines älteren Menschen liegen gefaltet auf einer weißen Bettdecke und werden von einem jüngeren Menschen gehalten.

Bremer Pflegeforscherin zu Sterbehilfe: Suizidassistenz ist Teamarbeit

Bild: dpa | Philippe Pauchet

Pflegende spielen bei der Sterbehilfe eine entscheidende Rolle. Doch der Gesetzgeber lässt sie im Stich, sagt eine Bremer Forscherin. Sie fordert neue gesetzliche Regeln.

Die Zukunft der Sterbehilfe in Deutschland ist weiter ungewiss. Wer beim Suizid assistiert, bewegt sich in einer rechtlichen Grauzone. Zwei Gesetzesentwürfe, die Abhilfe schaffen sollten, sind im Bundestag gescheitert. Für den nächsten Anlauf, den assistierten Suizid gesetzlich zu regeln, fordert die niedersächsische Ethikkommission für Berufe in der Pflege, Pflegekräfte einzubinden. Die Hintergründe erläutert Henrikje Stanze, Professorin für Pflegewissenschaften der Hochschule Bremen sowie Mitglied der Ethikkommission.  

Porträt von Henrikje Stanze
Fordert, dass Pflegekräfte bei der Regelung der Sterbehilfe in Deutschland eng eingebunden werden: die Bremer Pflegewissenschaftlerin Henrikje Stanze. Bild: privat

Frau Stanze, Sie fordern, dass bei der neuen gesetzlichen Regelung der Sterbehilfe Pflegekräfte eng mit eingebunden werden. Welche Rolle spielen Pflegekräfte bei der Sterbehilfe?

Pflegekräfte sind eng mit den Pflegebedürftigen Menschen zusammen und auch mit solchen, die schwerkrank oder schwerstkrank sind. Und diese Menschen äußern dann oft vor den Pflegekräften den ersten Todeswunsch. Das ist alles andere als ungewöhnlich. Es gibt in der Pflegeausbildung daher auch Lehreinheiten zum Umgang mit dem Todeswunsch.

Oft kann der Todeswunsch durch gute Beratung und durch den Aufbau eines
guten Netzwerks abgewendet werden, da dadurch zusätzliche Behandlungen
und Begleitungen eingeleitet werden können. Dann jedenfalls, wenn dem
Betroffenen aufgezeigt werden kann, dass einige der Wünsche
erfüllt werden können. Innerhalb solcher Netzwerke bilden professionell
Pflegende die Mitte. Sie können andere Berufsgruppen einbeziehen und natürlich den
Austausch mit den Menschen mit Todeswunsch aufrechterhalten. Das ist
eine unheimlich wichtige Aufgabe, die aber bislang nirgendwo richtig
beschrieben wird.

Bevor Sie uns erklären, wie die Rolle der Pflege bei der Sterbehilfe
künftig gesetzlich verankert werden könnte, eine Frage zum allgemeinen
Verständnis der Lage: Nachdem zwei Gesetzesentwürfe im Bundestag
gescheitert sind, bleibt die Sterbehilfe in Deutschland zunächst
ungeregelt. Was bedeutet das in der Praxis für Menschen, die assistiert
sterben wollen?

Das bedeutet, dass sich diese Menschen auf die Suche begeben müssen
nach einem Arzt oder einer Ärztin, der oder die sich bereiterklärt,
ihnen ein todbringendes Medikament zu verschreiben. Aber das sehen viele
Ärztinnen und Ärzte nicht als ihre Aufgabe an. Sie sagen: "Es ist
meine Aufgabe, Leben zu retten und nicht aktiv den Tod herbei zu
führen." Wenn sich dann doch ein Arzt findet, der bereit ist, das
todbringende Medikament zu verschreiben, dann macht er das in der Sorge,
sich strafbar zu machen.

Aber es gibt doch Dienstleister, die Sterbehilfe anbieten, Geld damit
verdienen?

Ja, es gibt solche Sterbehilfevereine. Aber die melden dann an die
Betroffenen zurück: "Suchen Sie sich bitte zunächst einen Arzt, der
Ihnen das Medikament verordnet." Nicht jeder dieser Vereine arbeitet mit
Ärzten zusammen. Was das Ganze zusätzlich verkompliziert: Laut
Betäubungsmittelgesetz ist es noch immer verboten, ein Medikament zu
verschreiben, das den Tod herbeiführt. Auch hier müsste der
Gesetzgeber etwas ändern.

Und was konkret müsste der Gesetzgeber aus Ihrer Sicht im Sinne der
Pflege regeln?

Das sind vor allem drei Aspekte. Als erstes müssten die
Aufgabenbereiche, die zum assistierten Suizid gehören, klar benannt
werden. In den beiden gescheiterten Entwürfen war davon die Rede, dass
Gespräche und Beratungen vor einem assistierten Suizid stattfinden
müssten. Doch die Pflege wurde dabei nicht erwähnt. Dabei könnte die
Pflege das mitübernehmen, mit anderen Berufsgruppen im Austausch. Aber
natürlich müssten dann, wenn diese Beratungszeiten mit aufgenommen
werden würden, die Pflegefachpersonen auch gesondert für diese wichtige Aufgabe bezahlt werden.

Zweitens müsste der Gesetzgeber regeln: Wie soll sich eine Pflegefachkraft verhalten, die dabei ist, wenn ein Sterbewilliger das todbringende Medikament schluckt?Grundsätzlich ist eine Person, die medizinisch ausgebildet ist, dazu verpflichtet, lebensrettende Maßnahmen einzuleiten. Im Falle der Pflege: bis der Notarzt oder die Notärztin eintrifft. Wenn die Pflegekraft das nicht macht, macht sie sich strafbar. Das ist natürlich ein großes Problem. Ausnahmen bilden eindeutige Patientenverfügungen. Diese fehlen jedoch dafür in der Praxis.

Drittens werden Pflegefachkräfte häufig als erste mit der Trauer der Angehörigen konfrontiert, weil sie so dicht dran sind. Auch hier müsste gesetzlich klar geregelt werden: Ja, das ist ein Aufgabenbereich für Pflegefachpersonen. Hier wird ihre Expertise verlangt. Und auch das sollte gesondert bezahlt sowie in der Bemessung der Qualität der Pflege gewürdigt werden. Das geschieht derzeit nicht. Das kommt leider auch nicht in den bisherigen Gesetzesentwürfen zur Sprache. Dabei spielen auch
diese Gespräche mit Angehörigen eine große Rolle bei der Sterbehilfe.

Bräuchten Pflegekräfte, die Menschen beim Suizid begleiten, eine
besondere psychologische Unterstützung?

Ja. Das ist auch durch Studienergebnisse etwa aus den Niederlanden belegt. Danach schaffen Pflegefachkräfte, die Menschen beim Suizid begleiten, durchschnittlich sieben Begleitungen – danach steigen sie aus dem Beruf aus. Weil sie nicht gut psychologisch aufgefangen werden.

Ließe sich auch diese psychologische Begleitung von Pflegekräften bei
uns durch den Gesetzgeber regeln?

Absolut. Aber natürlich müssten auch dazu entsprechende finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Wenn zum Beispiel Supervisionen vorgesehen werden, um die betreffenden Teams aufzufangen. Das wäre ganz wichtig! Suizidassistenz ist nicht Einzelarbeit, sondern Teamarbeit. Wir müssen im Team schauen: Wer kann diesen Suizid begleiten? Und wer kann es weshalb nicht? Wie können wir trotzdem einander unterstützen?

Die beiden gescheiterten Gesetzesentwürfe wollten Sterbehilfe durchaus
ermöglichen, allerdings geknüpft an verschiedene Bedingungen wie
vorherige Beratungen. Was ist Ihr Eindruck: Weswegen sind beide
Entwürfe im Bundestag gescheitert?

Das ist schwer zu sagen. Fakt ist: Wir stehen vor einer großen
gesellschaftlichen ethischen Diskussion. Die große Mehrheit der
Gesellschaft, glaube ich, ist der Meinung, dass es ein Recht auf
selbstbestimmtes Sterben gibt. Aber das, was daran hängt, was
geschieht, wenn jemand dieses Recht in Anspruch nimmt, wo Grenzen
gesetzt werden müssen - darin herrscht keine Einigkeit. Wahrscheinlich
stimmt die Mehrheit den beiden gescheiterten Entwürfen auch darin zu,
dass die Suizidassistenz bei Kindern und Jugendlichen nicht möglich
sein soll – wie etwa in Belgien.

Aber dann geht es weiter: Wann ist jemand wirklich frei verantwortlich?
Ist eine Person frei verantwortlich, wenn sie sagt: "Ich habe so
großen Liebeskummer. Deshalb möchte ich lieber sterben als leben. Ich
möchte den assistierten Suizid?" – Ich glaube, da werden einige sagen:
"Nein, diese Person nicht.

Aber was ist mit einer Person, die seit
vielen Jahren unter einer Depression leidet und sagt: "Ich habe alle
Therapien durch – ich will nicht mehr. Ich möchte lieber sterben als
leben." Vermutlich gibt es hier den ersten großen Konflikt zwischen
denen, die sagen: "Ja, es gibt ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben."
Und jenen, die sagen: "Diese Person ist psychisch krank. Wir müssen
weiter versuchen, ihr daraus zu helfen."

Wie müsste ein Gesetzentwurf aussehen, der im Bundestag eine Chance
hätte?

Darüber kann ich natürlich auch nur spekulieren. Wir hatten es jetzt
mit zwei Extremen zu tun: mit einem Gesetzesentwurf (jenem, an dem auch
die Bremer Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther mitgewirkt hat, die
Redaktion), der den assistierten Suizid grundsätzlich unter Strafe
stellen und nur in Ausnahmefällen zulassen wollte. Und mit einem sehr
liberalen Entwurf, der Sterbehilfe grundsätzlich, bei vorheriger
Beratung, erlaubt. Ich glaube: Der Mittelweg wäre erfolgversprechender.

Es müssten einige Punkte vor dem assistierten Suizid klar geklärt
werden, zum Beispiel: Hat die Person wirklich alles an
Palliativversorgung bekommen, was sie bekommen konnte? Hatte die Person
wirklich alles an psychiatrischer Versorgung, was sie bekommen konnte?
Hat es genügend Suizidprävention in der Gesellschaft gegeben? Ich
glaube, das sind Fragen, die in dem Gesetzestext verankert werden
müssten. Aber ich bin keine Gesetzgeberin. Das ist nur meine
persönliche Meinung aus ethischer Perspektive.

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Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 6. Juli 2023, 6:40 Uhr