Bremer Filmemacher zeigt ehemalige Provinz Ostpreußen im Kino
Die verschwundene Welt Ostpreußen: Eine Zeitreise mit Zeugen
Im neuen Film des Regisseurs Hermann Pölking wird die untergegangene Provinz Ostpreußen wieder lebendig. Zwölf Jahre hat der Bremer in historischen Archiven und Quellen dafür recherchiert.
Im August 1944 zeigen die Aufnahmen ein vermeintliches Idyll in Ostpreußens Hauptstadt Königsberg: Es fährt die Straßenbahn durch die prachtvolle Kantstraße. Am alten Hafen sind die Fachwerkspeicher aus dem 18. Jahrhundert zu sehen. Menschen flanieren bei schönstem Sommerwetter am Wasser. Es sind trügerisch friedliche Aufnahmen.
Nur wenige Tage später werden britische Bomber Königsberg in Schutt und Asche legen. Im April 1945 schließlich nimmt die Rote Armee die völlig zerstörte Stadt ein. Der von den Deutschen begonnene Angriffskrieg gegen die Sowjetunion hat sich gegen die Wehrmacht und die Zivilbevölkerung gewendet. Mehr als zwei Millionen Menschen müssen aus Ostpreußen fliehen. Viele davon führt der Weg im Januar 1945 über das zugefrorene Frische Haff, rund 300.000 Menschen kommen bei der Flucht ums Leben.
Ostpreußen gibt es nicht mehr
Mit diesen Gegensätzen beginnt der Film "Ostpreußen – Entschwundene Welt" des Bremer Regisseurs und Produzenten Hermann Pölking, der jetzt im Kino zu sehen ist. Er erzählt vom Untergang Ostpreußens – aber er zeigt durch viele bisher unveröffentlichte Aufnahmen auch das Alltagsleben dieser ehemaligen deutschen Provinz weit im Osten.
80 Jahre nach Kriegsende sind die Erinnerungen an diese Provinz verblasst. Denn es gibt sie nicht mehr, ebenso wenig wie den Dialekt. Was früher Ostpreußen war, gehört heute zu Polen, Litauen und zum russischen Gebiet Kaliningrad. Wer dort heute nach Spuren des alten Deutschlands sucht, wird enttäuscht. Es gibt sie kaum noch.
Der Film nutzt ausschließlich historisches Material
"Die Landschaft ist entschwunden in die Geschichte", sagt Regisseur Hermann Pölking. Mit seiner filmischen Reise nimmt er die Zuschauerinnen und Zuschauer nun mit in dieses entschwundene Land.
Pölkings Film ist ein Komplilationsfilm. Er nutzt ausschließlich historisches Material. Es gibt keine Inszenierungen, keine Zeitzeugen-Interviews, keine Neudrehs. Mit dieser Darstellungsform hat Pölking schon "Bremen wird bunt" mitproduziert. Die Dokumentation war im Jahr 2023 völlig überraschend der erfolgreichste Kinofilm in Bremen.
Kaum noch Zeitzeugen
Auf diesen Ansatz müssen sich Zuschauerinnen und Zuschauer einlassen, aber Pölking ist von dieser Erzählweise überzeugt: "Mein Ansatz ist es, aus den filmischen Quellen heraus erzählen", sagt Pölking. "Sie dienen nicht nur der Illustration für einen Text, sondern die Quellen an sich erzählen die Geschichte." Deshalb wird im Film mit einer Ausnahme auch jede Quelle identifiziert und benannt. Wer filmt dort wann und warum? Das allein verrät viel.
Zeitzeugen zu Ostpreußen zu finden, wäre ohnehin schwer. 80 Jahre nach dem Untergang gibt es nur noch wenige Menschen, die sich aktiv an Ostpreußen erinnern können. Hans-Joachim Scharffetter aus Schwanewede gehört dazu. Er ist aufgewachsen auf Gut Kallwischken, 100 Kilometer östlich der Hauptstadt Königsberg. Die Familie züchtete Trakehner-Pferde, die vor allem für das Militär eingesetzt wurden.
Pferdezüchter retten sich nach Schwanewede
Heute ist Scharffetter 91 Jahre alt. Im Film ist er als Achtjähriger zu sehen, natürlich auf dem Rücken eines Pferdes. An seine Kindheit hat Scharffetter durchaus schöne Erinnerungen: "Mein Vater hat mich oft mitgenommen, wenn er ritt. Ich saß eigentlich immer auf den Pferden."
Einige der Pferde nimmt sein Vater im Januar 1945 mit auf die Flucht. Mit 24 Trakehnern nimmt er den Weg über das Eis. Sie werden beschossen von der Roten Armee, doch auch die eigenen Soldaten stellen eine Gefahr dar: "Da kam einer von der Wehrmacht, der wollte Pferde beschlagnahmen", berichtet Scharffetter. Sein Vater aber habe das nicht zugelassen. Er zog eine Pistole, die er dabei hatte. "Wenn du schießt, dann sind wir beide tot", habe der Vater gesagt. Der Soldat gibt nach. Der Vater rettet sich und die Pferde.
Berlin war 600 Kilometer entfernt
So schaffen es die Scharffetters nach Norddeutschland, wo die Familie ihre Pferdezucht nach 1945 weiterführt – bis heute. Von den historischen Filmaufnahmen des Gestüts Kallwischken wussten sie bis vor Kurzem nichts. Erst kurz vor der Fertigstellung des Films haben die Scharffetters die Aufnahmen zum ersten Mal gesehen.
Pferdebegeisterte, wohlhabende Touristen aus der Schweiz hatten die Filme in den 1930er-Jahren anfertigen lassen. Oft waren es Menschen von außen, aus Berlin oder dem Ausland, die filmten. Denn Ostpreußen selbst war eine abgelegene, landwirtschaftlich geprägte Provinz, fernab der Metropolen. "Wenn Sie in Ostpreußen einen Film entwickeln wollten, mussten Sie den nach Berlin schicken", sagt Regisseur Hermann Pölking. "Das waren 600 Kilometer mit der Eisenbahn."
Zwölf Jahre Recherche
Zwölf Jahre lang hat der Bremer Filmemacher nach alten Aufnahmen gegraben und sie mit seinem Team mühevoll restauriert. Auf Auktionen von Nachlässen hat Pölking sich umgehört, in Archiven gesucht. "Irgendwann sprach sich das rum, dass ich zu Ostpreußen recherchiere" sagt er. "Dann wurden mir auch gezielt Filme angeboten." Mancher Fund ist kurios. Im Stadtarchiv in Münster lagen etwa alte Aufnahmen, bei denen zuvor niemand bemerkt hatte, dass sie gar nicht Münster, sondern Ostpreußen zeigten.
Den Alltagsaufnahmen widmet er den Großteil des Films. Nach gut 20 Minuten lässt der Film den Untergang Ostpreußens hinter sich – und macht einen Rücksprung zur ältesten bekannten Filmaufnahme aus Ostpreußen vom Juni 1912.
Der letzte Sommer in Ostpreußen
Sie zeigt die Landung des Militär-Luftschiffes Parseval 3 in Königsberg. Danach geht der Film chronologisch voran. Er erzählt von adligen Gutshöfen, wo polnische Helfer mit Sensen das Korn ernten, vom größten Pferdemarkt Europas, von idyllischen Sommern an der Ostsee. Aber auch vom Aufstieg der Nationalsozialisten, die in Ostpreußen auf große Zustimmung stoßen. Schon bald werden Sie das Land in den Untergang führen.
Und so mischen sich auch in Pölkings Film immer wieder Militäraufnahmen unter die Idylle. Noch im Sommer 1944 zeigt der Film Soldaten auf Heimaturlaub, auf Segelbooten in den Masuren. Der August 1944 – er bietet stabiles Hochsommerwetter mit Temperaturen über 30 Grad. Es ist ein Jahrhundertsommer. Es wird der letzte Sommer in Ostpreußen sein.
"Ostpreußen – Entschwundene Welt", läuft seit dem 15. Mai im Kino.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 23. Dezember 2024, 19:30 Uhr