Vor 75 Jahren erschütterten die Blockland-Morde Bremen
Man sprach von "Massaker" oder "Hinrichtung": Am 20. November 1945 wurden zwölf Menschen auf einem Hof im Bremer Blockland ermordet. Bis heute gibt der Fall Rätsel auf.
Bremens beliebteste Radlerstrecke, die Blockland-Runde. Auf etwa halbem Weg zwischen Findorff und Dammsiel liegt rechter Hand ein zugewuchertes Grundstück. Hier stand einmal der Hof Kapelle, dessen Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen. In dieser Novembernacht 1945 wurde er Schauplatz eines grausigen Massenmordes. Damals lebten auf dem Hof die Familie Flothmeier, Angestellte, der eingeheiratete Wilhelm Hamelman, dessen Eltern, seine Frau und ihre Kinder.
Es war ein Raubüberfall, der als Massaker endete. In dieser Nacht sind zwölf Personen erschossen worden, teils aus nächster Nähe.
Helmut Dachale, Journalist
Den Tathergang und die weiteren Entwicklungen hat der Journalist Helmut Dachale lange recherchiert – und ein Buch darüber veröffentlicht.
Ein schwerverletzter Überlebender
Der 43-jährige Apothekerassistent Wilhelm Hamelmann überlebt schwerverletzt als einziger die Tat, schleppt sich zum Nachbarhof, wo es ein Telefon gibt, und kann so noch in der Nacht der Polizei von dem Überfall berichten. Er spricht von einer Gruppe junger Polen, wohl ehemalige Zwangsarbeiter, die bewaffnet den Hof überfallen hätten.
Es gibt nur ein 50 Jahre altes Tondokument von Wilhelm Hamelmann dazu: "Der Anführer schloss das Kellerfenster, und was folgen würde, war mir klar: erschießen. Ich hatte mich etwas hinter meiner Familie erhoben, um sie schützend in meine Arme aufzunehmen. Dadurch verfehlte er den gezielten Kopfschuss und traf mich in die Lunge."
Todesstrafe für die Beschuldigten
Ein Lager für ehemalige Zwangsarbeiter in Gröpelingen wird von der Polizei anschließend durchsucht. Die Polizisten finden Gegenstände vom Hof Kapelle, mehrere Männer werden verhaftet. Der schwer verletzte Hamelmann identifiziert noch im Krankenhaus die Täter – und im Februar stehen acht Polen vor einem amerikanischen Militärgericht.
Es gibt Teilgeständnisse, aber nur wenige eindeutige Beweise. Die Mordwaffen sind verschwunden, ebenso ein vermeintlicher Anführer und Haupttäter. Am dritten Tag ergehen die Urteile: vier mal Todesstrafe, drei mal lebenslänglich, einmal 40 Jahre Gefängnis.
Überlebender will Begnadigungen
Aber die Geschichte ist noch nicht vorbei: Als der tiefgläubige Christ Hamelmann 22 Jahre später erfährt, dass drei der Täter trotz Begnadigung immer noch im Gefängnis sitzen, nimmt er Kontakt auf – bemüht sich um ihre Entlassung.
"Da hat er sich um diese drei gekümmert, hat auch Besuche gemacht im Zuchthaus, hat sich für sie eingesetzt und hat es zusammen mit einer Journalistin aus Hamburg geschafft, dass diese drei dann noch entlassen wurden", erzählt Dachale. Der Mann, dessen Frau und Kinder ermordet wurden, vergibt den Tätern, die selbst einst Opfer des NS-Systems gewesen waren.
Dieser Mann hatte vorher eine direkte Nähe zu Zwangsarbeitern, wusste um das Schicksal der Zwangsarbeiter. Er wusste, wie sie gelitten haben in diesen Jahren.
Helmut Dachale, Journalist
Helmut Dachale hat sich mit Hamelmanns Hintergrund näher beschäftigt. Über Zeitzeugen recherchierte er, dass Hamelmann der KPD nahe stand. Er könnte sogar zeitweise Mitglied der Partei gewesen sein. Hamelmann arbeitete in der NS-Zeit außerdem mit dem Bremer Widerstand zusammen, der auch geflohenen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen half.
Für Helmut Dachale ist Wilhelm Hamelmann deshalb eine beeindruckende Persönlichkeit. Dachale schaut noch einmal auf das verwilderte Gelände des früheren Hofs Kapelle. 1997 wurde der alte Hof abgerissen, aber nichts weist dort mehr auf die besondere Vergangenheit des Ortes hin. Helmut Dachale nennt das "sehr geschichtslos".
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Vormittag, 20. November 2020, 11:40 Uhr